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- Dissoziative Identitätsstörung (DIS) - eine Persönlichkeitsstörung?
Bettina Overkamp; Arne Hofmann; Michaela Huber, Gerhard Dammann


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Ursachen von dissoziativer Identitätsstörung

In den internationalen Traumafachgesellschaften besteht Konsens darüber, daß die entscheidende Ursache für die Entstehung der dissoziativen Identitätsstörung in unserem westlichen Kulturkreis im Zusammenspiel von zwei Faktoren liegt (Kluft 1984c; Braun & Sachs 1985; Fiedler 1996):

  • Es bedarf einer psycho-biologischen Fähigkeit zur Dissoziation.
  • Es muß eine schwere, langanhaltende Traumatisierung hinzukommen, die es erforderlich macht, diese Fähigkeit und den dazugehörigen veränderten Bewußtseinszustand vermehrt zu nutzen.

Seit über 20 Jahren wird die Diskussion um den physischen und sexuellen Mißbrauch von Kindern geführt, der zu den verschiedensten Störungsbildern führen kann (Kendall-Tackett et al. 1993; Moggi 1996). Als auslösenden Faktor findet man bei über 95 Prozent aller PatientInnen mit DIS eine Geschichte schwerer, langanhaltender frühkindlicher Traumatisierung in Form von sexuellem, physischem, psychischem und rituellem Mißbrauch vor allem im Elternhaus, der zumeist schon vor dem fünften Lebensjahr begonnen hat (Coons et al. 1988; Fagan & Mc-Mahon 1984; Kluft 1985a; Putnam et al. 1986; Ross et al. 1989, 1991a). In über 80 Prozent der Fälle sind es Frauen, die eine Dissoziative Identitätsstörung entwickeln.

Die schwere Traumatisierung wird von dem Kind als lebensbedrohlich und unausweichlich erlebt, so daß für ein hoch dissoziationsfähiges Kind die Möglichkeit besteht, das Geschehen mit Hilfe des zur Verfügung stehenden frühen Abwehrmechanismen der Dissoziation "unschädlich" zu machen (Sachs et al. 1988). Dabei blendet es in der Traumatisierung selbst seinen normalen Bewußtseinszustand völlig aus und geht in eine Art tiefer Trance, mit deren Hilfe das Geschehen hinter eine amnestische Barriere "gebannt" wird. Dieses abgespaltene Fragment bewahrt das traumatische Erinnerungsmaterial. Gerät das Kind immer wieder in eine ähnliche Traumasituation, kann das abgespaltene Fragment durch entsprechende (mit der ursprünglichen Situation verbundenen) Auslöser (trigger) stets auf’s Neue ins Bewußtsein geschwemmt werden. Es ruft den veränderten Bewußtseinszustand hervor und läßt zunächst alternierende Bewußtseinszustände (dissociative states) entstehen, aus denen unter Umständen dissoziierte Persönlichkeitszustände werden (dissociative fragments). Im Extremfall, das heißt bei fortgesetzter langjähriger Traumatisierung, dissoziative Alternativ-Ichs als "eigenständige Persönlichkeiten" (dissociative alters). In diesem Sinne ist die Dissoziative Identitätsstörung eine hochkomplexe und differenzierte Anpassungsleistung der Person (bereits als Kind).

„Man kann sich also die Dissoziation so vorstellen, daß ein massiver Affektdruck in einer unerträglichen Situation, insbesondere bei regelhafter Wiederholung solcher Situationen, zu einer Kanalisierung und Automatisierung des Erlebens auf mehreren ‘Bahnen’ führt, die dann zu abgrenzbaren Gedächtnissen, Emotionen und Verhaltensweisen - bis hin zu Persönlichkeiten- sich ausbilden ... Was dann in der Situation bleibt, ist gewissermaßen nicht mehr er selbst; er hat sich entzogen und im bildlichen und wörtlichen Sinne nur seinen Körper zurückgelassen" (Hoffmann 1994, S.22).

Da der dissoziative Vorgang der Abspaltung die (dringend benötigte) emotionale Erleichterung verschafft, wird er, wie jede andere erlernte erfolgreiche Strategie, in verschiedenen Streßsituationen häufiger und zunehmend einfacher angewandt. Dabei steht der Zeitpunkt der ersten Spaltung in engem Zusammenhang mit dem Beginn der Traumatisierung (Putnam et al. 1986), danach entstehende Identitäten können nicht nur "Traumaanteile" tragen, sondern auch dem "unauffälligen Weiterfunktionieren" dienen zum Beispiel als Innere Selbsthelfer-, Beobachter- oder Beschützer-Anteile.

Neben den dissoziativen Fähigkeiten und den Traumatisierungen in der Kindheit durch einen oder beide Elternteile lassen sich in Untersuchungen überdurchschnittlich viele Berichte und Diagnosen von psychiatrischen Auffälligkeiten, Krankheiten oder dissoziativen Störungen in der Ursprungsfamilie von PatientInnen mit einer dissoziativen Identitätsstörung finden (Kluft et al. 1984; Braun 1984, 1985). Diese "Familienpathologie" scheint auf eine familiär erhöhte Vulnerabilität der Störung hinzuweisen, und zwar nicht (nur) aufgrund einer möglichen biologischen Basis, sondern vor allem wegen des dysfunktionalen und traumatisierenden Familiensystems.

Dissoziative Identitätsstörung - meist auch eine Persönlichkeitsstörung, aber in erster Linie eine Posttraumatische Störung

Weder die ICD-10 noch das DSM IV zählen die Dissoziative Identitätsstörung zu den klassischen Persönlichkeitsstörungen; die ursprüngliche Bezeichnung multiple Persönlichkeitsstörung hat für einige Verwirrung gesorgt, bis sie 1994 für den englischen Sprachraum durch den Terminus "Dissoziative Identitätsstörung" ersetzt wurde. Die Entwicklung einer DIS ist nicht in jedem Fall mit der Entwicklung einer klassischen Persönlichkeitsstörung verbunden.Es kann aber durchaus zu Problemen in der Persönlichkeitsentwicklung kommen, wenn eine so frühe Abwehrform wie die Dissoziation zum Hauptabwehrmechanismus wird.

Die Entstehung der Organisationsstruktur der Persönlichkeit hängt von einer Vielfalt von spezifischen interpersonellen Erfahrungen der Person in der Kindheit ab. Selbst ähnliche Traumatisierungen haben nicht bei allen Menschen den gleichen Effekt, so daß Trauma als verursachender Faktor vieler verschiedener psychischer Störungen gelten kann, dessen Wirkung aber auch durch salutogene Faktoren gemildert werden kann (Moggi 1996; Wyatt & Newcomb 1990). Bis vor kurzem wurde in Studien das Augenmerk vorwiegend auf die möglichen Überschneidungen und Unterschiede zwischen DIS und der Borderline-Persönlichkeitsstörung gelegt. In bis zu 70 Prozent der DIS-Fälle in amerikanischen Multicenter-Untersuchungen läßt sich eine Borderline-Persönlichkeitsstörung als Komorbidität feststellen (Horevitz & Braun 1984; Ross et al. 1989). In einer neuen, systematischen Untersuchung aller DSM-Achse II-Störungen fanden Ellason et al. (1996) bei 135 DIS-PatientInnen im Durchschnitt in über 63 Prozent der Fälle gleichzeitig drei verschiedene Persönlichkeitsstörungsdiagnosen. Interessant ist daran unter anderem, daß gerade die histrionische Persönlichkeitsstörung nur eine niedrige Komorbidität aufwies. Einen Überblick über gefundene Komorbiditäten gibt Tabelle 1.

Tab. 1.: Persönlichkeitsstörungen als Komorbidität in der Dissoziativen Identitätsstörung
n.u. = nicht untersucht
Persönlichkeitsstörung Horevitz & Braun (1984)
N=33
Ross et al. (1989)
N = 236
Coons et al. (1988)
N = 20
Ellason et al. (1996)
N = 135
Borderline 70% 63,3% n.u. 56,3%
ängstlich-vermeidend n.u. n.u. n.u. 48,5%
selbstentwertend n.u. n.u. n.u. 46,6%
paranoid n.u. n.u. n.u. 43,7%
dependent n.u. n.u. n.u. 39,8%
zwanghaft n.u. n.u. n.u. 35,9%
dissozial n.u. n.u. 45% 23,3%
passiv-aggressiv n.u. n.u. n.u. 12,6%
narzißtisch n.u. n.u. n.u. 12,6%
histrionisch n.u. n.u. 50% 8,7%
schizoid n.u. n.u. n.u. 5,8%

Die vollausgeprägte Symptomatik einer DIS in Form alternierender Identitäten läßt sich nicht selten bereits im Kindes- und Jugendalter eindeutig feststellen und behandeln (Dell & Eisenhower 1990; Fagan & McMahon 1984; Kluft 1984a; 1985b; Putnam 1991; Hornstein & Tyson 1991). Der enge Zusammenhang mit traumatischen Erfahrungen in der Kindheit und dem Auftreten der Störung bereits im Kindesalter spricht für eine Klassifikation der dissoziativen Identitätsstörung in den Traumakontext in seinen speziellen Verarbeitungsformen. Bereits für das DSM-IV war diskutiert worden, ob man nicht eine eigene Kategorie "Traumastörung" schaffen sollte, unter der neben den dissoziativen Störungen auch die Posttraumatische Belastungsstörung (aber auch posttraumatische Phobien und Schmerzstörungen) zu fassen wäre (Ross, 1989). Aufgrund der phänomenologischen und atheoretischen Ausrichtung des diagnostischen Manuals wurde dieser Vorschlag jedoch bisher nicht umgesetzt.

Exkurs in die Psychotraumatologie

Ein Großteil der psychophysiobiologischen Grundlagenforschung zur Dissoziation entstand aus der Beschäftigung mit PTSD (posttraumatic stress disorder) (Herman 1994 und Wilson & Keane 1997); beginnend mit den ersten Kriegstraumatisierten in den Weltkriegen und in Vietnam, KZ-Opfern bis hin zu anderen Gewaltopfern und Mißbrauchsüberlebenden.

Im folgenden soll ein kurzer Einblick in den aktuellen Stand der Thematik, der auch für die Dissoziative Identitätsstörung relevant ist, gegeben werden: Man geht davon aus, daß Traumaerfahrungen anders im Gedächtnis abgespeichert werden als normale neutrale Ereignisse (Krystal et al. 1995; Bremner et al. 1995, Van der Kolk & Fisler 1995) und einen tiefgreifenden Einfluß auf die regulatorische Funktion der neuroanatomischen Bereiche Neokortex, Limbisches System und Stammhirn mit Hypothalamus nehmen. Eine traumatische Situation ist begleitet von einem hohen Erregungsniveau und einer eingeschränkten (fokussierten) Aufmerksamkeit und kann sich später in den verschiedensten Symptomen äußern, etwa als Hypermnesie, Hyperreaktivität auf bestimmte Stimuli, als traumatisches Wiedererleben der Situation (Flashbacks) oder als emotionale Taubheit ("numbing"), Vermeidungsverhalten, Amnesien, Ängste und Depressivität. Damit werden die sinnesspezifischen Erinnerungen an das Trauma (oder deren Fragmente) zum Problem, die den inneren Streß erzeugen, ohne daß die äußere, traumarelevante Situation reaktiviert werden muß (Van der Kolk et al. 1996).

Sensorische und stark emotional geladene Erfahrungen werden nicht im Hippocampus, sondern über die Amygdala in einer fragmentierten Speicherung über das Limbische System erinnert. Die Abspeicherung dieser "Fragmente" erfolgt nicht-sprachlich, sondern als Körpererinnerungen, Gerüche, Geräusche, Bewegungen, die als konditionierte Reize wirken, um Traumaaspekte in der inneren Welt wiederzubeleben (Flashbacks), wobei die Wahrnehmung der konditionierten (und oftmals generalisierten) Reize nicht bewußt erfolgen muß (vgl. Metcalfe & Jacobs 1996). Es reicht also teilweise ein leichter Alkoholgeruch in der Luft oder das Knarren von Treppenstufen, um unwohlste Körpergefühle, Angstzustände oder panisches Fluchtverhalten zu aktivieren, ohne daß semantische Gedächtnisinhalte vorliegen. Über ein Zusammenfügen der Bruchstücke und Bilder in einer späteren Therapiephase erfolgt bei PsychotraumapatientInnen nach neueren Therapieansätzen die schrittweise Realisierung und die Integration ins Bewußtsein, so daß für das Geschehene eine verbale "Geschichte" rekonstruiert wird (Van der Hart et al. 1995).

Woran erkennt man klinisch eine Patientin mit einer dissoziativen Identitätsstörung?

Menschen mit einer Dissoziativen Identitätsstörung haben also nicht nur eine Identität mit spezifischen Verhaltensweisen, Einstellungen, Erinnerungen, Krankheiten, Gewohnheiten, Fähigkeiten, Vorlieben und einem eigenen Stil entwickelt haben, sondern gleich mehrere, die sich deutlich voneinander unterscheiden. In über 80 Prozent der Fälle sind Frauen von der Störung betroffen. Das Problem für die Betroffenen liegt darin, daß die "ursprüngliche Person" oft keinerlei Kontakt zu den alternierenden Identitäten besitzt, an extremen "Zeitlücken" und Amnesien leidet und sich immer wieder mit Handlungen ihrer "Nicht-Ichs" konfrontiert sieht, ohne eine Ahnung von deren Existenz zu haben. Sie kann anderen Menschen als eine notorische Lügnerin erscheinen, wenn sie es leugnet, Handlungen begangen zu haben, die diese mit eigenen Augen gesehen haben, oder wenn sie sich an Geschehnisse des vergangenen Tages einfach nicht mehr erinnern kann (Ross, 1989). Huber (1995a) beschreibt in ihrem Buch das "normal-verrückte Leben als Person mit einer multiplen Persönlichkeit", was es im Alltag bedeutet, "Zeit zu verlieren", eigentlich keine Vergangenheit zu haben oder Stimmen im Kopf zu hören und sich nicht alleine im Körper zu fühlen, Kleidungsstücke, Möbel, Werkzeuge, Spielzeug, Schmuck in der Wohnung zu finden, die einem nicht gehören oder an deren Erwerb man sich nicht erinnern kann. Oder wie schwierig es wird, unterschiedliche Handschriften zu erklären, beziehungsweise Freunde und Verwandte nicht kontinuierlich zu (er)kennen und ein Leben in permanenter Angst und Unsicherheit zu führen, weil es überall innere und äußere Auslösereize für einen Identitätswechsel gibt. PatientInnen mit einer dissoziativen Identitätsstörung leiden neben (oft kaum erwähnten) dissoziativen Phänomenen gehäuft unter vielfältigsten klinischen Symptomen, wie Kopfschmerzen, Panikanfällen, Depressionen, selbstzerstörerischen und selbstverletzenden Verhaltensweisen (u.a. Drogenmißbrauch, Prostitution), Schlafstörungen, Sexualstörungen, Zwangsphänomenen, Eßstörungen, akustischen Halluzinationen, unerklärbaren Schmerzen und Konversionssymptomen etc. (Putnam et al. 1986; Ross et al. 1989; Kluft 1991).

Das "typische" Erscheinungsbild, wie es sich KlinikerInnen präsentieren kann, ist gekennzeichnet von Impulsdurchbrüchen mit anschließender Erinnerungslücke, Selbstverletzung ohne Schmerzwahrnehmung, borderlineartig anmutenden angstneurotischen Störungsbildern mit der Wahrnehmung von Stimmen im Kopf, einer schweren Depression mit suizidalen Impulsen in Kombination mit starken Wechseln im affektiven- und im allgemeinen Funktionsniveau der PatientInnen.Zusätzliche (unspezifische) Hinweise für das Vorliegen einer dissoziativen Identitätsstörung können nach Kluft (1991) und Ross (1989) folgende Faktoren sein:

  • eine Geschichte häufiger und langjähriger Psychotherapien und -therapieversuchen ohne entscheidende Verbesserungen in der Symptomatik
  • die Verwendung des Begriffes "WIR" in Bezug auf die eigene Person
  • das Auftreten getrennter und deutlich unterschiedener "Persönlichkeiten" in einem längeren Gespräch
  • das Vorkommen migräneartiger Kopfschmerzen
  • weibliches Geschlecht
  • Alter zwischen 20 - 40 Jahren
  • in der Anamneseerhebung eine Vorgeschichte einer (sexuellen) Traumatisierung vor dem sechsten Lebensjahr

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