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Pressemitteilung der ISSD Deutschland zum ARD-Film "Multiple Persönlichkeiten: Wahn der Therapeuten?" (Ausstrahlung am 19. März 2003)


Mitteilung an die Medien – 06.03.03

 

Wahnvorstellungen?

 

ARD-Film macht Stimmung gegen Traumatherapie

 

Multiple Persönlichkeiten gibt es nicht, so die Behauptung des Autors Felix Kuballa. Sein TV-Beitrag veranlasst die ISSD [1], einen internationalen Fachverband von Traumatherapeuten, erstmals in ihrer Geschichte öffentlich zu einem Medienbericht Stellung zu nehmen.

Das Massaker an der Schule in Erfurt, das ICE-Unglück in Eschede und die Vergewaltigung von Frauen im Kosovo: Nach Katastrophen und Unfällen, Kriegen, Folter und anderen Formen zwischenmenschlicher Gewalt helfen qualifizierte deutsche Traumatherapeuten den Überlebenden und den Unterstützern, ihre Erinnerungen zu verarbeiten und zu einem guten Leben zurückzufinden.

Traumatherapie selbst ist nicht spektakulär, aber ihr Erfolg in den besten Fällen wohl: Menschen mit Kriegstraumatisierungen können nach jahrelangen Schlafstörungen, Flashbacks [2], Depressionen, nach Arbeitsunfähigkeit oder Suizidalität wieder ein aktives, zuversichtliches Leben führen. Opfer von sexueller Gewalt und Kinderpornographie befreien sich von Schreckensbildern der Vergangenheit. Therapie hilft, Symptome als Folgeschäden zu mildern und beispielsweise Sucht und selbstverletzendes Verhalten – oft Versuche, Gewalterinnerungen zu verbannen – einzustellen und positive Perspektiven zu entwickeln. [3] Und bei den aktuellen Aufdeckungen der Saarbrücker Polizei um sexuellen Missbrauch und Mord des kleinen Pascal bleibt zu hoffen, dass die überlebenden kindlichen Opfer der Bande gute therapeutische Hilfe erhalten.

Doch es gibt noch ein anderes Bild von Traumatherapie. Das zeichnet Autor Felix Kuballa im Film „Multiple Persönlichkeitsstörung: Wahn der Therapeuten?“, den die ARD am 19.03. in der Reihe „die story“ zeigt. Leider ist das Fragezeichen im Titel der einzige Hinweis im Film, dass es zum Thema noch Fragen gibt. Die Geschichte: Eine Deutsche und zwei US-Bürgerinnen, die vor zehn oder mehr Jahren eine Diagnose der Dissoziativen [4] Identitätsstörung (DIS) – früher Multiple Persönlichkeitsstörung[5] genannt – erhielten, gelangten später zu der Überzeugung, dass sie nicht „multipel“ seien. Sie behaupten, ihre Therapeuten hätten ihnen bizarre Geschichten von sexueller Gewalt, Kriminalität und Multipler Persönlichkeit unter Hypnose suggeriert, und verklagen diese.

Zu Recht weist Kuballa darauf hin, dass es in der Frühzeit systematischer Diagnostik dieser seit rund 150 Jahren bekannten Störung viel Unwissen und auch Fahrlässigkeit gab. So sind etwa zehn Prozent [6] der Diagnosen „falsch positiv“, das heißt, der Therapeut hat sich geirrt.

Doch der Autor begnügt sich nicht mit diesem Hinweis. Er benutzt die drei Frauen, um die Existenz der Dissoziativen Identitätsstörung an sich zu bestreiten und Betroffene wie Fachleute unglaubwürdig zu machen. „Multiple Persönlichkeit gibt es nicht“, sagt eine der Frauen im Film, und die Experten nicken. In diesem einen Fall mag die Diagnose falsch gewesen sein. Aber gilt das auch für den Rest der Welt?

Man könnte den Beitrag stillschweigend als persönliche Meinung des Autors hinnehmen, der sicher Gründe für seine Schwerpunktsetzung hat. Da der Film aber ein derart einseitiges Bild von Traumatherapie zeigt und viele sachliche Fehler aufweist, steht zu befürchten, dass er trotz später Sendezeit (23.30 Uhr) mehr Schaden anrichtet als Aufklärung leistet. Er kann Patienten verunsichern und Fachleute in ihrer Arbeit behindern. Deshalb nimmt die deutsche ISSD-Sektion öffentlich Stellung zu diesem Medienbericht:

Die ISSD beschäftigt sich mit der Forschung und Fortbildung bei der Diagnostik, Behandlung und Prävention dissoziativer Störungen. Die schwerste Form aus diesem Störungsspektrum ist die Dissoziative Identitätsstörung. Diese Störung wird als psychobiologische Antwort auf schwere kindliche Traumatisierungen in Form von Vernachlässigung sowie seelischer, körperlicher und sexueller Misshandlung im Kindesalter verstanden. Sie führt zu einem charakteristischen Muster von Identitätsaufspaltungen. [7] In dem Film von Kuballa wird nun der Eindruck erweckt, dass es sich bei der Dissoziativen Identitätsstörung um ein iatrogenes, d.h. durch therapeutische Kunstfehler entstandenes Krankheitsbild handelt. Der aktuelle Forschungsstand spricht jedoch gegen diesen Standpunkt. Es ist vielmehr erwiesen, dass diese Erkrankung zu den posttraumatischen Störungen gezählt werden muß. [8] Die Störung ist bei stationären psychiatrischen Patientinnen und Patienten in einer versorgungsrelevanten Größenordnung (ca. 5%) zu finden. [9] Wir wissen heute, dass wiederholte Traumatisierungen die Vernetzung und Biochemie des kindlichen Gehirns nachhaltig schädigen. [10] Wir wissen, dass diese Gewaltformen die Gesundheit der Menschen noch 40 Jahre später beeinträchtigen oder zerstören können. [11] Aber – und das ist die gute Nachricht –, wir wissen auch, dass derartige Traumafolgen bei rechtzeitiger Intervention häufig reversibel sind: Psychotherapie kann Neurobiologie verändern. [12] Mit intensiver Psychotherapie kann die Prognose der sonst chronisch verlaufenden Erkrankung deutlich verbessert werden. [13] Obwohl grundsätzlich die Gefahr besteht, dass die Diagnose fälschlicher Weise gestellt wird, besteht zur Zeit das viel größere Problem darin, dass die Erkrankung nicht erkannt wird oder in Ermangelung ausreichender Therapieangebote nicht adäquat behandelt wird. [14] In einem durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft unterstützten Projekt wird an der Medizinischen Hochschule Hannover an der Entwicklung von Tests zur schnelleren Erkennung der Erkrankung gearbeitet. [15] Von der ISSD wurden bereits 1997 Richtlinien für die Behandlung der DIS veröffentlicht. [16] Von journalistischer, sorgfältiger Annäherung an die Wahrheit kann bei dem Beitrag von Felix Kuballa leider nicht die Rede sein. Der Film zeigt beispielsweise Anwalt Christopher Barden, der behauptet, es gäbe an die tausend solcher Prozesse gegen Therapeuten in den USA. In der Fachöffentlichkeit sind nur 150 bekannt. [17] Barden, der sich in den USA durchaus einen Namen gemacht hat bei der Aufklärung über gefährliche Techniken wie Rebirthing, behauptet, die Zeitung der Therapeuten, die Menschen mit DIS behandeln, hätte „dicht gemacht“ (fälschlich wird „shut down“ mit „verbieten“ übersetzt). Der Name des Blattes wird nicht genannt – in den USA kennt man keinen solchen Fall. Außerdem geht der Autor in keiner Weise auf die Fortschritte in Neurowissenschaften und Psychotraumatologie ein. Statt dessen zitiert er ausschließlich Experten, die sämtlich mit der False Memory Syndrom Foundation (FMSF) in Verbindung stehen. Das ist ein Zusammenschluss von Menschen, die - zu Unrecht oder zu Recht - des sexuellen Missbrauchs beschuldigt werden [18]. Niemand sollte zu Unrecht sexuellen Missbrauchs beschuldigt werden. Das darf aber nicht dazu führen, Opfern sexueller Gewalt die Glaubwürdigkeit abzusprechen und Therapeuten in aggressiven Kampagnen und mit Prozessen zu attackieren, wie es die FMSF macht. Diese Verbindung wird im Film nicht offengelegt. Alternative Ansichten fehlen ganz. Das ist fatal auf einem Feld, in dem gegensätzliche Meinungen aus gutem Grund zu hören sind: Die dissoziativen Störungen konfrontieren uns mit einer Seite der Gesellschaft, die wir lieber nicht sehen wollen: dem Ausmaß verborgener Gewalt und Vernachlässigung in Familien. Nichts verursacht so viele nachhaltige Gesundheitsschäden und Todesfälle wie diese erschreckende Realität, so zeigt eine amerikanische Langzeitstudie an 17.000 Erwachsenen [19].

Qualifizierte Traumatherapie unterstützt Betroffene, mit Gewaltfolgen fertig zu werden, seien diese durch Familien oder in extremer Ausprägung durch destruktive Kulte verursacht. Dabei werden heutzutage weder – wie im ARD-Film behauptet – „Wahrheitsdrogen“ gespritzt, noch Exorzismus betrieben oder gar unter Hypnose eingeredet, der Papst wäre ein Satanist. Solche Szenen sind Hokuspokus aus dem Bereich von Varietezauberei. Ein Blick in die Richtlinien der ISSD hätte genügt, das zu klären.[20] Die von Kuballa angeprangerte Hypnose etwa wird als Instrument mehr und mehr durch modernere Techniken ersetzt. Zudem schuf das Psychotherapeutengesetz (1999) einheitliche Standards in einem bis dahin für Laien undurchsichtigen Bereich.

In den letzten Jahren findet Deutschland den Anschluss an fortschrittliche Traumatherapie anderer Länder. In vielen Großstädten wurden Traumazentren eingerichtet, die erfolgreiche Arbeit leisten. Hätte Felix Kuballa sich bei einem dieser Profis Rat geholt, dann hätte er erfahren, dass die Dissoziative Identitätsstörung klar diagnostiziert werden kann. Anders als sein Film behauptet, ist die Diagnose trennscharf, valide und unterscheidet sich von anderen Störungen.[21] Sie wird in beiden international anerkannten und gültigen Diagnosehandbüchern aufgeführt.[22] Wenn man überhaupt Diagnostik akzeptiert (natürlich basiert sie auf dem Konsens von Fachleuten, wie auch unser Rechtssystem), dann muss man auch diese Diagnose akzeptieren. Zurecht weist Kuballa auf die Gefahr von Fehldiagnosen hin. Die dissoziative Identitätsstörung zu übersehen, ist auch ein Fehler.

Im Namen der ISSD Deutschland:


Dr. med. Arne Hofmann

Dipl.-Psych. Michaela Huber

PD Dr. med. Ursula Gast

Leiter des EMDR-Instituts Deutschland Ausbildung, Forschung, Beratung im Bereich psychischer Traumatisierungen

Lehrbeauftragter an der Universität Köln

und der Universität Peking

Mitglied der Leitlinien-Kommission

zur posttraumatischen Belastungsstörung

 

psychologische Psychotherapeutin

Ausbilderin und Supervisorin im Bereich traumazentrierte Psychotherapie

Schwerpunkt komplexe Posttraumatische Belastungsstörung, dissoziative Störungen

Mitbegründerin und Vorstandsmitglied

des Zentrums für Psychotraumatologie e.V. in Kassel

1. Vorsitzende der dt. Sektion der ISSD

Psychoanalytikerin

Ärztin für Psychotherapeutische

Medizin

Medizinische Hochschule Hannover

Leiterin Psychotherapie-Weiterbildung

Mitglied der Leitlinien-Komission „Dissoziative Störungen“

Mail: Arne.Hofmann@uni-koeln.de

Mail: huber_michaela@t-online.de

Mail: gast.ursula@mh-hannover.de

 

 

Linkliste mit Informationen zu Trauma: www.swr2.de/zeitgenossen/sendungen/2001/12/16/

 

Buchtipps:            Judith Herman „Narben der Gewalt“. Junfermann-Verlag 2003

                               Michaela Huber „Multiple Persönlichkeiten“. Fischer-Verlag 1995

Frank Putnam „Die Dissoziative Identitätsstörung“. Junfermann-Verlag 2003

 

                                

Medienkontakt:   Maria Jansen, Pressebüro Medienhaus, Fon und Fax 040 – 430 71 00

 

 

 

 


 

[1] ISSD = International Society for the Study of Dissociation www.issd.org sowie www.dissoc.de/issd

[2] Flashback = wiederkehrende, zwanghafte, extrem eindringliche und belastende bildhafte Vorstellung einer traumatischen Erfahrung

[3] Herman, Judith Lewis: Trauma and Recovery. New York 1992; dt. Narben der Gewalt. Paderborn 2003

[4] Dissoziation = Trennung; krankhafte Entwicklung, in deren Verlauf zusammengehörende Denk-, Handlungs- oder Verhaltensabläufe in Einzelheiten zerfallen, wobei deren Auftreten weitgehend der Kontrolle des einzelnen entzogen bleibt, z.B. Gedächtnisstörungen. (Duden)

[5] Huber, Michaela: Multiple Persönlichkeiten. Überlebende extremer Gewalt. Frankfurt 1995

[6] Draijer, Nel & Boon, Suzette & Drajer: The imitation of dissociative identity disorders: patients at risk, therapists at risk. In: Journal of Psychiatry and Law 27/1999 S. 423-458

[7] Putnam, F.W. (1989). Diagnosis and treatment of Multiple Personality Disorder. New York: Guilford Press. Deutsche Ausgabe: Putnam (2003) Diagnostik und Behandlung der Dissoziativen Identitätsstörung. Junfermann, Paderborn

[8] Gleaves, D.H. (1996). The sociocognitive model of dissociative identity disorder: a reexamination of the evidence. Psychological Bulletin, 120, 42 – 59.

Gleaves, D.H, May, C.M. & Cardena, C. (2001) An examination of the diagnostic validity of dissociative identity disorder. Clinical Psychological Review, 21, 577-608.

[9] Gast, U., Rodewald, F., Nickel, V. & Emrich, H.M. (2001). Prevalence of dissociative disorders among psychiatric inpatients in a German university clinic. Journal of Nervous and Mental Disease, 189, 249 – 257.

[10]  „A Flight of Mind. The Act of Dissociation Can Protect Children Emotionally From Trauma, but Repeated Use May Cause Lasting Harm“. Pamela Oldham, Washington Post, 18.02.03; “How child abuse and neglect damage the brain” Josh Kendall, Boston Globe 24.09.02

Tsai, G.E., Condie, D., Wu, M.T. & Chang, I.W. (1999). Functional magnetic resonance imaging of personality switches in a woman with dissociative identity disorder. Harvard Review of Psychiatry, 7, 119-122.

[11] Felitti, Vincent J.: “The Adverse Childhood Experiences Study” American Journal of Preventive Medicine 1998, 14, 245-258

[12] “Neural correlates of traumatic memories in posttraumatic stress disorder: a functional MRI investigation” Am J Psychiatry 2001 Nov; 158 (11): 1920-2. “Brain activation during script-driven imagery induced dissociative responses in PTSD: a functional magnetic resonance imaging investigation” Biol Psychiatry 2002 Aug 15; 52 (4): 305-11. Nijenhuis, Ellert R.S., van der Hart, Onno, Steele, Kathy, “The Emerging Psychobiology of Trauma-Related Dissociation and Dissociative Disorders” Biological Psychiatry 2002

[13] Ellason, J.W. & Ross, C.A. (1997). Two-year follow-up of inpatients with dissociative identity disorder. American Journal of Psychiatry, 154, 832 – 839

Gast, U., Rodewald, F., Kersting, A. & Emrich, H.M. (2002). Stellungnahme zum Leserbrief von Wölk, W. (2002) zu Gast et al. 2001, Psychotherapeut, 46, 289-300. Psychotherapeut, 129 – 131.

Reddemann, L. A. Hofmann & U. Gast (Hrsg.) (2003, in Druck). Die Behandlung Dissoziativer Störungen. Reihe Lindauer Psychotherapie-Module:. Stuttgart: Thieme.

[14] Gast, U., Rodewald, F., Kersting, A. & Emrich, H.M. (2001). Diagnostik und Therapie Dissoziativer (Identitäts-) Störungen. Psychotherapeut, 46, 289 – 300.

[15] Gast U. 2002 Komplexe Dissoziative Störungen Konzeptionelle Untersuchungen zur Diagnostik und Behandlung der Dissoziativen Identitätsstörung und ähnlicher Erkrankungen. Habilitationsschrift. Medizinische Hochschule Hannover. (Unveröffentlichtes Manuskript).

[16] Seit1998 unter www.dissoc.de/issd

[17] Crook, Lynn: „Inadequate Legal Representation of Therapists Accused of Implating False Memories: Three Case Stories” 19th Annual Conference of the International Society of the Study of Dissociation. Baltimore 2002

[18] Paul McHugh ist im Beratergremium des FMSF; ebenso Richard Ofshe, auf dessen Buch „Making Monsters“ die Protagonistin sich bezieht; Christopher Barden ist Kolumnist der FMSF (www.fmsfonline.org/current.html

Herbert Spiegel wird in der „White Hat List“ geführt unter „Internet-Adressen, die zu FMSF-Ansichten positiv eingestellt sind“ (www.ags.uci.edu/~dehill/witchhunt/links.htm)

[19] „Relationship of Childhood Abuse and Household Dysfunction to Many of the Leading Causes of Death in Adults“ siehe 11)

[20] „Hypnose wird nicht bei der Diagnosestellung eingesetzt, sondern meist zum Zwecke der Beruhigung, Tröstung, Distanzierung, für Containment-Techniken und Ichstärkung.“ siehe ISSD-Richtlinien unter www.dissoc.de/issd

[21] Putnam, Frank: Diagnosis and Treatment of Multiple Personality Disorder. New York 1989; dt.: Diagnose und Behandlung der Dissoziativen Identitätsstörung. Paderborn 2003. Gast, Ursula: Die Dissoziative Identitätsstörung. (www.lptw.de)

[22] DSM-IV und ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation WHO, letzteres gültig für den Kostenschlüssel im deutschen Gesundheitswesen